Dauerbrenner: Ist Reisezeit Arbeitszeit?

Selbst wenn Reisezeit als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes zu werten ist, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die Reisezeit als Arbeitszeit vom Arbeitgeber vergütet werden muss. Die Rechtslage ist außerordentlich kompliziert und sehr einzelfallbezogen.

1) Es gibt kein spezifisches höchstrichterliches Urteil, das explizit die Frage regelt, ob Reisezeit als Arbeitszeit zu werten ist. Stattdessen basiert die Beurteilung der Reisezeit auf verschiedenen Gesetzen, Regelungen und Gerichtsurteilen.

Gemäß § 611a BGB ist die Arbeitszeit als diejenige Zeit zu verstehen, während welcher der Arbeitnehmer die Arbeit tatsächlich leistet. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in mehreren Entscheidungen betont, dass auch Zeiten, die der Arbeitnehmer auf Anweisung des Arbeitgebers an einem anderen Ort als seinem Arbeitsort verbringt, als Arbeitszeit gelten können.

Ein wichtiges Urteil in diesem Zusammenhang ist die Entscheidung des BAG vom 17.02.2015 (Az. 9 AZR 455/13). In diesem Urteil wurde festgestellt, dass die Wegezeiten eines Arbeitnehmers, der im Außendienst tätig ist, grundsätzlich als vergütungspflichtige Arbeitszeit anzusehen sind, sofern diese Wegezeiten nicht nur unerheblich sind.

Das Verwaltungsgericht Lüneburg dürfte das erste deutsche Gericht sein, das europarechtliche Vorgaben konsequent und arbeitnehmerfreundlich umgesetzt hat. In einem Urteil vom 02.05.2023 (3 A 146/22) wurde festgestellt, dass Reisezeiten für eine Dienstreise mit der Bahn als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes gelten. Der Arbeitgeber, eine Spedition, überführte Nutzfahrzeuge. Der Arbeitnehmer musste mit der Bahn zum Abholort fahren, das Nutzfahrzeug dort übernehmen und im Anschluss damit zu einem vorgegebenen Zielort fahren. Dort angekommen, musste der Arbeitnehmer die Rückreise mit der Bahn antreten. Das Gewerbeaufsichtsamt hatte dem Arbeitgeber aufgegeben, die zulässigen Höchstarbeitszeiten einzuhalten, die es als verletzt ansah. Die Reisezeiten im Zug seien aus Sicht des Gewerbeaufsichtsamtes als Arbeitszeit zu werten. Gegen diese Entscheidung hatte der Arbeitgeber geklagt und argumentiert, dass der Arbeitnehmer seine Zeit während der Bahnfahrt frei gestalten könne und somit lediglich ein „Freizeitopfer“ erbringe. Eine dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufende Belastung sei auch nicht gegeben.

Das Verwaltungsgericht ist dieser Argumentation nicht gefolgt und hat sich auf europarechtliche Grundlagen berufen. Entscheidend sei allein, ob der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung stehe und seine Tätigkeit ausübe bzw. ihm zugewiesene Aufgaben wahrnehme. Die Bahnreisezeit sei daher als Arbeitszeit zu betrachten. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig.

Nach den aktuellen europarechtlichen Vorgaben sind die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ anhand objektiver Merkmale unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des Zwecks der Richtlinie zu bestimmen. Nur eine solche autonome Auslegung der Richtlinie könne gewährleisten, dass die Richtlinie ihre volle Wirksamkeit entfalte und einheitlich angewendet werde (EuGH, Urteile vom 09.03.2021, C-580/19 und C-344/19). Es komme darauf an, welche Möglichkeiten für den Arbeitnehmer bestehen, seinen persönlichen oder sozialen Interessen nachzugehen. Auch eine Entscheidung des EFTA-Gerichtshof bestätigt diese Haltung: Die Reisezeit eines Arbeitnehmers, der auf Anweisung seines Arbeitgebers an einen anderen als seinen üblichen Arbeitsort reist, um dort Aufgaben für den Arbeitgeber zu erledigen, gelte als Arbeitszeit (EFTA-Gerichtshof, Urteil vom 15.07.2021, E-11/20).

2) Im Arbeitsrecht wird zwischen Wegezeiten (Fahrt zur üblichen Arbeitsstätte), Dienstgang (Arbeitstermin an einem nahegelegenen Ort) und Dienstreise (Reisetätigkeiten aus beruflichen Gründen zu einem weiter entfernten Ort) unterschieden.

Insbesondere die Dienstreise ist häufig Gegenstand von Streit im Arbeitsverhältnis. Das Arbeitszeitgesetz schreibt vor, wie lange der Arbeitstag maximal sein darf: Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf demnach nicht mehr als acht Stunden betragen. Sie kann auf bis zu zehn Stunden nur dann verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.

Ist der Mitarbeiter während der Arbeitszeit unterwegs, ist das unproblematisch, denn dann kommt er selbst mit einer Dienstreise nicht über seine erlaubte tägliche Stundenzahl. Probleme tauchen auf, wenn die Dienstreise darüber hinausgeht. Daneben ist die Frage umstritten, ob Reisezeiten wie Arbeitszeit zu vergüten sind.

3) Reist der Arbeitnehmer während seiner regulären Arbeitszeit aus geschäftlichem Anlass mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zählen der Flug oder die Zugfahrt als normale Arbeitszeit, die entsprechend vom Arbeitgeber zu vergüten ist, selbst wenn der Mitarbeiter in dieser Zeit nicht aktiv arbeitet.

4) Muss ein Arbeitnehmer einen Kundentermin in einer anderen Stadt wahrnehmen und dafür bereits am Vortag (zum Beispiel an einem Sonntag) mit dem Zug anreisen, kommt es darauf an, ob der Arbeitgeber die Anordnung getroffen hat, dass der Arbeitnehmer unterwegs arbeiten soll oder nicht (siehe BAG, Urteil vom 11.07.2006, 9 AZR 519/05). Geht die Anweisung in Richtung Arbeiten, zählt die Zeit im Zug als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes, und die Reisezeit muss als Überstunden erfasst und entsprechend vergütet werden. Gab es keine Arbeitsanweisung für die Zeit im Zug, gilt die im Zug verbrachte Zeit nicht als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes; dann darf der Arbeitstag des Arbeitnehmers inklusive Reisezeit auch länger als acht oder zehn Stunden dauern; ob die Zeit im Zug vergütet werden muss, wird weiter unten in Ziffer 8 dargestellt.

5) Ordnet der Arbeitgeber an, dass der Arbeitnehmer mit dem Dienstwagen oder einem Mietwagen anreist, ist die im Fahrzeug verbrachte Zeit als Arbeitszeit zu werten. Dies gilt auch außerhalb der normalen Arbeitszeit. Der Arbeitnehmer darf sich für die Fahrtzeit Überstunden aufschreiben, denn er muss sich bei der Autofahrt auf den Verkehr konzentrieren und kann – anders als im Zug oder im Flugzeug – nicht entspannen. Bei dieser Form der Dienstreise darf die Gesamtzeit aber nicht mehr als zehn Stunden betragen.

6) Wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Entscheidung überlässt, ob dieser mit dem Fahrzeug oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf Dienstreise geht, und der Arbeitnehmer entscheidet sich für die Fahrt mit dem Fahrzeug, zählt eine Fahrt außerhalb der normalen Arbeitszeit nicht zur Arbeitszeit, denn der Arbeitnehmer hätte ja auch die Möglichkeit gehabt, sich statt dessen in den Zug zu setzen und sich dort auszuruhen. Eine Ausnahme gilt dann, wenn die Anreise mit dem Zug oder mit dem Flugzeug erheblich teurer oder zeitintensiver gewesen wäre. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann die in dem Verkehrsmittel verbrachte Zeit dann doch als Arbeitszeit gewertet werden.

7) Hält sich der Arbeitnehmer nur als Beifahrer in einem Fahrzeug auf, gilt außerhalb seiner normalen Arbeitszeit, dass er keine Überstunden aufschreiben darf, denn er hat – anders als der Fahrer – nicht aktiv am Straßenverkehr teilgenommen und wird während der Fahrt im Regelfall auch kaum gearbeitet haben (Ausnahme: Führen von geschäftlichen Telefonaten).

8) Aufgrund eines Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 17.10.2018 (5 AZR 553/17) gelten neue Regelungen für die Bezahlung von Fahrtzeiten auf einer Dienstreise. Wenn ein Arbeitnehmer zum Beispiel nach einem Arbeitstag von acht Stunden Dauer nach Feierabend noch drei Stunden im Zug eine Dienstreise nach Hause unternimmt, werden diese drei Stunden zwar nicht als Arbeitszeit nach dem Arbeitszeitgesetz gewertet (zumindest wenn keine Mehrarbeit angeordnet wurde), die drei Stunden im Zug müssen aber vergütet werden, sofern die Reise erforderlich war. Dabei muss der Arbeitnehmer die Reisezeit nur so zeit- und kostengünstig wie möglich halten, damit der Arbeitgeber die Reisezeit als Arbeitszeit vergüten muss.